Zeitungsartikel liefern Beschreibungen alltäglicher Situationen, in denen Menschen Fremd- oder Selbstkritik formulieren. Mit ihrer Hilfe wird eine interkulturell wie intersubjektiv bereicherte Beschreibung der Praktiken von Verantwortungszuschreibungen in Form des Be- und Entschuldigens möglich.
Eine erste Recherche zu Be- und Entschuldigungen im Zusammenhang mit Corona hat zum einen gezeigt, dass entsprechende Äußerungen einen Sonderfall darstellen. In Japan wurde ungewöhnlich viel Kritik geäußert, in Deutschland ungewöhnlich viel Selbstkritik (z. B. Merkels Entschuldigung bezüglich des Osterlockdowns). Diese Vor-Recherche wurde genutzt, um Begriffe bzw. Zeichen zu finden, die neben accus*/excuse bzw. beschuldig*/entschuldig* einen Vergleich mit Austins Beschreibung erlauben wie zum Beispiel: indignation / blame / guilt; возмущение ([vosmushchenie] Empörung) / вина ([vina] Schuld); 批判 ([hihan] Kritik) / 反省 ([hansei] Reflexion/Selbstkritik) / 憤り ([ikidōri] Empörung/Wut).
Mithilfe dieses Clusters aus Begriffen und Zeichen wurde eine zweite Recherche durchgeführt. Insgesamt jeweils 100 Fallbeispiele zu Be- und Entschuldigungssituationen wurden so aus jeweils 5 verschiedenen Tageszeitungen in der deutschen, russischen, englischen und japanischen Sprache gesammelt.
Diese Fallbeispiele zeigen, dass in bislang unter Rekurs auf Schuld beschriebenen Kulturen wie Deutschland eine allozentrische Verantwortungszuschreibung vorherrscht (Fremdkritik) und in bislang unter Rekurs auf Scham beschriebenen Kulturen wie Japan eine egozentrische (Selbstkritik). Anhand der beschriebenen Praktiken lassen sich die Kulturen dann sinnvoller in blame & selfblame cultures bzw. Kritik- und Selbstkritik-Kulturen unterscheiden. Beide Formen der Verantwortungszuschreibung dürfen dabei nicht als essentialistische Merkmale missverstanden werden, sondern sind Tendenzen, die in allen Kulturen vorkommen, in einigen aber verstärkt auftreten. Beide haben Vor- und Nachteile, sodass die interkulturelle Reflexion die Nachteile der eigenen Praktiken aufzeigen und die Vorteile der anderen Praktiken nutzbar machen kann.
Hier können die russischen, deutschen, englischen und japanischen Fallbeispiele für Selbstkritik und Fremdkritik abgerufen und unter Beachtung der CC-Lizenz genutzt werden. Neben konkreten Beschreibungen einzelner Situationen, die zum Beispiel phänomenologisch genutzt werden können, verdeutlichen die Beispiele auch, dass es tatsächlich die genannten Tendenzen gibt:
Selbstkritik
wird in Japan deutlich häufiger ohne vorherige Kritik von außen und ohne Ausrede geäußert.
Reaktionen auf Kritik
durch andere werden in Russland, Großbritannien und Deutschland deutlich häufiger von einer Gegenkritk und/oder Ausrede begleitet.